Gedichte
ausgewählt von Peter Huth (Gross Pankow / Prignitz)
Alles wird anders sein.
Wenn Du auch krank vor Heimweh bist
und dein Herz verdorrt,
immer, wenn einer fortgeht, ist
er für immer fort.
Träumtest Du auch vor Dich hin
über dem Wellenschlag,
wie daheim die Wiese im
Sommernachmittag
weht, und daß der Birnbaum hoch
hängt darüber her,
ach, die Wiese ist ja doch
längst die Wiese nicht mehr,
ach, der Wald nicht der Wald mehr, ach,
nicht Dein Haus mehr Dein Haus!
Leise weinet nur der Bach,
Wind geht ein und aus –
Wär’s nicht besser, Du bliebest von dem
allen weiter getrennt?
Willst Du zurück, bloß daß Dich auf dem
Hof nur der Hund erkennt?
[1938]
Alexander Lernet-Holenia (1897 – 1976)
In Heines Manier
Sie zückte den zornigen
Blitz ihres Augenlichts :
„Ich hab dich
mit einer andern gesehn.
Du bist der gemeinste,
nichtswürdigste
Taugenichts!...“
Und sie schalt
und sie schimpfte
und ließ sich mal gehn.
Ich bin ein gebildeter Bursch, meine Liebe.
Drum lassen Sie bitte Ihr Donnern sein.
Und bin ich beim Blitzschlag am Leben geblieben,
so schüchtert, bei Gott,
mich der Donner nicht ein.
[1920]
Wladimir Majakowski (1893 – 1930)
[deutsche Fassung von Hugo Huppert]
Mama
(und ein von den Deutschen erschlagener Abend)
Auf schwarzen Straßen liegen weiße Mütter
krampfig gebreitet, wie auf Särgen Brokat.
Fortschwemmt ihr Schluchzen die Siegesgewitter :
„Drückt den Zeitungen die Augen zu, habt die Gnad!“
Ein Brief.
Mama lauter!
Es qualmt,
qualmt,
qualmt ein Stäubendes!
Was sagt mir, Mama, Ihr Stammeln und Lallen?
Sehn Sie, sehn Sie,
die Lüfte erfüllt betäubendes
Aufplatzen und Fallen von Stein und Metallen!
Mama!
jetzt brachten sie den verwundeten Abend.
Er nahm sich zusammen,
zerprellt,
zerschunden,
und plötzlich –
zerbricht seine Haltung, begrabend
sein Schluchzen über den Warschauer Wunden.
Sterntränen in Tüchern blau und kattunen
kreischten:
„Erschlagen mein Teurer,
erschlagen!“
Und fürchterlich schielen sah man Frau Lunen
auf Fäuste, die klamm im Todekrampf lagen.
Dörfer Litauens kamen gelaufen,
erspähend, wie Kowno mit bitterm Ach
kirchenfenstrig ob Menschenhaufen
klagend die Finger der Gassen zerbrach.
Doch der Abend,
Arme und Beine verloren,
läßt sein Gebrüll
in Lüften wirbeln:
„Mazurka tanzend
klirrn meine Sporen,
während die Finger
den Schnurrbart zwirbeln!“
Es läutet.
Was haben Sie,
liebste unter den Müttern?
Der Abend stirbt bleich, wie auf Särgen Brokat…
„Ach, seht die Depesche
in Händen mir zittern.
Drückt den Zeitungen die Augen zu, habt die Gnad!“
[1914]
Wladimir Majakowski (1893 – 1930)
[deutsche Fassung von Hugo Huppert]
Entschluss
Noch schien der Lenz nicht gekommen,
Es lag noch stumm die Welt,
Da hab den Stab ich genommen,
Zu pilgern ins weite Feld.
Und will auch kein‘ Lerch‘ sich schwingen,
Du breite die Flügel, mein Herz,
Laß hell und fröhlich uns singen
Zum Himmel aus allem Schmerz!
Da schauen im Tale erschrocken
Die Wandrer rings in die Luft,
Mein Liebchen schüttelt die Locken,
Sie weiß es wohl, wer sie ruft.
Und wie sie noch stehn und lauschen,
Da blitzt es schon fern und nah,
All‘ Wälder und Quellen rauschen,
Und Frühling ist wieder da!
[Datum??]
Joseph von Eichendorf (1788 – 1857)
An das Herz
Kleines Ding, um uns zu quälen,
Hier in diese Brust gelegt!
Ach wer’s vorsäh, was er trägt
Würde wünschen, tätst ihm fehlen!
Deine Schläge, wie so selten
Mischt sich Lust in sie hinein!
Und wie augenblicks vergelten
Sie ihm jede Lust und Pein!
Ach! und weder Lust noch Qualen
Sind ihm schrecklicher als das:
Kalt und fühllos! O ihr Strahlen,
Schmelzt es lieber mir zu Glas!
Lieben, hassen, fürchten, zittern,
Hoffen, zagen bis ins Mark
Kann das Leben zwar verbittern;
Aber ohne sie wär’s Quark!
[Datum??]
Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 – 1792)
Die Genügsamkeit
Das Traumbild kam zu mir nach langem Leiden,
Den Wächtern trotzend und der Späher Blick.
Da ward mir eine Nacht voll Lust und Glück.
Im Traum vergaß ich ganz des Tages Freuden.
Ihr Traumbild trat nach kurzer Ruh‘
An meines Lagers Rand.
Mit großen Schatten deckte zu
Der nächt’ge Fürst das Land.
Ich wußte, daß des Grabes Raum
Schon lang sie hielt gebannt,
Und dennoch kam sie nun im Traum,
Wie ich sie einst gekannt.
Wie einst war es um uns bestellt.
Wie einst ward unsre Zeit.
Das Herz nichts höher in der Welt
Als Wiederkehr erfreut.
[Jahreszahl??]
Ibn Hazm al-Andalusi (994 – 1064)
[deutsche Fassung von Max Weisweiler]
Schok
1
Ein Tschekist namens Schok
beorderte zur Mitarbeit, ihrer Klugheit wegen,
Olja, die von leuchtender Haut war
und sich als Verräterin erwies.
2
Darauf zog das Gerücht,
Schok, ihrem Lustreiz erlegen, habe gewußt,
unaufhaltsame Kreise.
So daß, die Tscheka nicht ins Zwielicht zu stellen, er
zur Patrone verurteilt wurde.
3
Ich weiß, sagte ruhig der Richter, ein Vorgesetzter,
du bist ohne Schuld.
Es wird schwer sein, dich zu vergessen.
4
Da seiner Frau
Zweifel an ihm, Schok, nicht kommen würde,
doch ihr nicht kommen sollte Zweifel
am Rechtsspruch der jungen Republik,
5
schrieb ihr Schok, die Erschießung
werde verlautbart, die Feinde zu täuschen. In Wahrheit
rufe ihn die unaufhaltsame Revolution
dringend in ein anderes Land.
[1974]
Peter Gosse (*1938)
Der Gott der Stadt
Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
Die letzten Häuser in das Land verirrn.
Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
Die großen Städte knieen um ihn her.
Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer
Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
Der Millionen durch die Straßen laut.
Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.
Das Wetter schwält in seinen Augenbrauen.
Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.
Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
Und frisst sie auf, bis spät der Morgen tagt.
[Jahreszahl??]
Georg Heym (1887 – 1912)
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
Und an den Küsten, liest man, steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
[1913]
Jakob van Hoddis (1887 – 1914)
Flügellahmer Versuch
Es schweift der Mond durch ausgestorbne Gassen,
Es fällt sein Schein bestimmt durch bleiche Scheiben.
Ich möchte nicht in dieser Gasse bleiben;
Ich leid es nicht, daß Häuser stumm erblassen.
Doch was bewegt sich steil auf den Terrassen?
Ich wähne dort das eigenste Betreiben,
Als wollten Kreise lieblich sich beschreiben,
Ich ahne Laute, ohne sie zu fassen.
Es mag sich wohl ein weißer Vogel zeigen,
Fast wie ein Drache trachten aufzusteigen.
Dabei sich aber langsam niederneigen.
Wie scheint mir dieses Mondtier blind und eigen,
Es klopft an Scheiben, unterbricht das Schweigen
Und liegt dann tot in Hainen unter Feigen.
[Jahreszahl??]
Theodor Däubler (1876 – 1934)
Ein modernes Märchen
Türen öffnen sich allein,
Schränke klaffen auf und spei‘n
Fräcke, Hosen aus und Kleider,
nebst den Attributen beider.
Und sie wandeln in den Raum,
wie ein sonderbarer Traum,
wehen hin und her und schreiten
ganz wie zu benutzten Zeiten.
Auf den Sofas, auf den Truhn
Sieht man sitzen sie und ruhn,
auf den Sesseln, an den Tischen,
am Kamin und in den Nischen.
Seltsam sind sie anzuschaun,
kopflos, handlos, Männer Fraun;
doch mit Recht verwundert jeden,
daß sie nicht ein Wörtlein reden.
Dieser Frack und jener Rock,
beide schweigen wie ein Stock,
lehnen ab, wie einst im Märchen,
sich zu rufen Franz und Klärchen.
Ohne Mund entsteht kein Ton,
lernten sie als Kinder schon:
Und so reden Wams und Weste
lediglich in stummer Geste.
Ein Uhr schlägt’s, die Schränke schrein:
Kommt, und mög euch Gott verzeihn!
Krachend fliegen zu die Flügel,
und – nur eins hängt nicht am Bügel…
[Jahreszahl??]
Christian Morgenstern (1871 – 1914)
Abkunft
Die Spanne, die nicht Träumen ist noch wachen,
beschenkt mich oft mit seltsamen Gedichten:
Der Geist, erregt, aus Chaos Welt zu machen,
gebiert ein Heer von landschaftlichen Sichten.
Da wechseln Berge, Täler, Ebnen, Flüsse,
da grünt ein Wald, da türmt es sich graniten,
da zuckt ein Blitz, da rauschen Regengüsse,
und Mensch und Tier bewegen sich inmitten.
Das sind der Vordern fortgepflanzte Wellen,
die meinen Sinn bereitet und bereichert,
das Erbe ihrer Form- und Farbenzellen,
darin die halbe Erde aufgespeichert.
[Jahreszahl??]
Christian Morgenstern (1871 – 1914)
Sonett
Zwei Reime heiß‘ ich viermal kehren wieder
Und stelle sie geteilt in gleiche Reihen,
Daß hier und dort zwei, eingefaßt von zweien,
Im Doppelchore schweben auf und nieder.
Dann schlingt des Gleichlauts Kette durch zwei Glieder
Sich freier wechselnd, jegliches von dreien.
In solcher Ordnung, solcher Zahl gedeihen
Die zartesten und stolzesten der Lieder.
Den werd‘ ich nie mit meinen Zeilen kränzen,
Dem eitle Spielerei mein Wesen dünket
Und Eigensinn die künstlichen Gesetze.
Doch wenn in mir geheimer Zauber winket,
Dem leih‘ ich Hoheit, Füll‘ in engern Grenzen
Und reines Ebenmaß der Gegensätze.
[Jahreszahl??]
August Wilhelm Schlegel (1767 – 1845)
Abschied vom Mai
O Luft wie Seide, wirr durchwirkt von Vogelrufen,
Aus spannt der Himmel, irisiert des Teichs Panier
Im Hauch erzittert auch der frischen Blätter Zier
Das Herz, das spürt in sich den Tanz von Fohlenhufen
Unbelehrt, saugt die Pupille aller Farben Stufen,
Dort üppig ausgebreitet, hingetupft nur hier,
Hinein, ein summend Gelb, ein klirrend Weiß, das schier
Myriadenfache Sonnenwenden schufen.
Nun schließ die Augen halb und dann erinnre dich.
Nichts ist, nichts bleibt, wie‘s ist, und es verändert sich.
Hier wurdest du geformt, und ist die Hand bereit,
Bevor der Mai verlischt, die Zügel loszulassen?
Noch wandelst du im Kreis, noch querst du deine Zeit,
Noch atmest du den Stoff und kannst es doch nicht fassen.
[JahresZahl]
P. H. (1953*)
Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Aleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
[10]
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)
Da leben Menschen
Da leben Menschen, weißerblühte, blasse,
und sterben staunend an der schweren Welt.
Und keiner sieht die klaffende Grimasse,
zu der das Lächeln einer zarten Rasse
in namenlosen Nächten sich entstellt.
Sie gehn umher, entwürdigt durch die Müh,
sinnlosen Dingen ohne Mut zu dienen,
und ihre Kleider werden welk an ihnen,
und ihre schönen Hände altern früh.
Die Menge drängt und denkt nicht sie zu schonen,
obwohl sie etwas zögernd sind und schwach, –
nur scheue Hunde, welche nirgends wohnen,
gehn ihnen eine Weile nach.
Sie sind gegeben unter hundert Quäler,
und, angeschrien von jeder Stunde Schlag,
kreisen sie einsam um die Hospitäler
und warten angstvoll auf den Einlasstag.
Dort ist der Tod. Nicht jener, dessen Grüße
sie in der Kindheit wundersam gestreift, –
der kleine Tod, wie man ihn dort begreift;
ihr eigener hängt grün und ohne Süße
wie eine Frucht in ihnen, die nicht reift.
[Jahr?]
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)
An die Musik
Musik: Atem der Statuen. Vielleicht:
Stille der Bilder. Du Sprache wo Sprachen
enden. Du Zeit,
die senkrecht steht auf der Richtung vergehender Herzen.
Gefühle zu wem? O du der Gefühle
Wandlung in was? – : in hörbare Landschaft.
Du Fremde: Musik. Du uns entwachsener
Herzraum. Innigstes unser,
das, uns übersteigend, hinausdrängt, –
heiliger Abschied:
da uns das Innre umsteht
als geübteste Ferne, als andre
Seite der Luft:
rein,
riesig,
nicht mehr bewohnbar.
[Jahr?]
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)
Terzinen über die Liebe
Sieh jene Kraniche in großem Bogen
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen
Aus einem Leben in ein andres Leben.
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.
Daß also keines länger hier verweile
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
Und keines andres sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen.
So mag der Wind sie in das nichts entführen;
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
So lange kann sie beide nichts berühren
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
So unter Sonn und Monds wenig verschiedene Scheiben
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
[Jahr?]
Berthold Brecht (1898 - 1956)
Nachtigallen
Ich kann nicht schlafen unter diesem Baum.
Er ist erfüllt von Nachtigallen.
Das würde mir am hellen Tag gefallen,
jetzt zupfen sie an meinem schönsten Traum.
Es ist der Traum, der wieder mal begann.
Es geht darin um Liebe, die nicht endet,
um einen Sturm, der sich zum Lüftchen wendet.
Mit dir fängt dieser Traum noch einmal an.
In ihm wächst eine Hoffnung wild wie Farn,
der sucht sich seine Erde zwischen Steinen,
die unter sich ein Wurzelwerk verneinen.
Der Traum macht einen Weisen neu zum Narrn.
[Jahr?]
Heinz Kahlau (1931 – 2012)
Wir schreiten auf und ab
Wir schreiten auf und ab im reichen flitter
Des buchenganges beinah bis zum tore
Und sehen außen in dem Feld vom gitter
Den mandelbaum zum zweiten mal im flore.
Wir suchen nach den schattenfreien bänken
Dort wo uns niemals fremde stimmen scheuchten -
In träumen unsre arme sich verschränken -
Wir laben uns am langen milden leuchten
Wir fühlen dankbar wie zu leisem brausen
Von wipfeln strahlenspuren auf uns tropfen
Und blicken nur und horchen wenn in pausen
Die reifen früchte an den boden klopfen.
[Jahr?]
Stephan George (1868 – 1933)